Es ist ein Drama
Die Voraussetzungen sind eigentlich exzellent. Tischtennis als weltweit betriebener Leistungssport hat sich in den letzten Jahrzehnten extrem athletisch und dynamisch entwickelt. Als Spiel ist es ein gesundes Life-Time-Vergnügen. Und was Deutschland angeht – unser Herrenteam ist Vize-Weltmeister und Olympia-Zweiter hinter China, die Damen waren zuletzt Dritter bei der WM in Moskau. Doch diese eindrucksvollen Tatsachen stehen im Gegensatz zu den Entwicklungen im Umfeld unseres Sports. Tischtennis spielt in den Medien nur eine untergeordnete Rolle. Der DTTB ist im deutschen Sport zwar nach wie vor ein bedeutender Faktor, aber es gibt kein Wachstum.
Die Zuschauerzahlen zeigen in Europa und auch China eine erschreckend negative Tendenz. Beim ITTF Grand Final Ende Dezember in Seoul (Südkorea) liefen die Viertelfinal-Einzel in einer 10000 Menschen fassenden Arena vor 250 Zuschauern ab. Die relativ gut besuchten Veranstaltungen in Deutschland leben vom großen Heer der aktiven Spieler und Senioren, ziehen aber nur wenige generell am Sport interessierte Fans an. Und auch im Hobby-Bereich gibt es ungute Entwicklungen. Warum sind beispielsweise die früher in jedem Hotel und jeder Freizeitanlage üblichen Tischtennis-Tische so viel seltener anzutreffen?
Es ist allerhöchste Zeit, zu analysieren und zu handeln.
Schönheit, Artistik und Dynamik verständlich demonstrieren
Ich glaube, dass wir es selbst zu verantworten haben, wenn die Attraktivität von Tischtennis in der Welt des Sports und beim Sportpublikum nur bedingt erkannt wird. Denn wir, ob ITTF, ETTU oder DTTB, wir sind es, die es bisher nicht fertig bringen, die Schönheit, die Artistik und die Dynamik unseres Spiels der Öffentlichkeit verständlich zu demonstrieren. Tischtennis leidet an Krankheiten, die seine Zukunft gefährden. Aber diese Krankheiten sind heilbar, denn sie liegen nicht in der Qualität des Sports begründet, sondern in einem überholten, falsch verstandenen Regelwerk. Und an Rahmenbedingungen, die man ändern kann. Man könnte jetzt auf die schreckliche Vielfalt unserer Mannschafts- Spielsysteme eingehen, wo wir es doch tatsächlich geschafft haben, für WM und EM, für Olympia, Champions League und Bundesliga unterschiedliche Lösungen zu erfinden.
Man könnte das Thema Material-Regeln beleuchten. Dort haben wir als wohl einziger Ballsport der Welt Materialien zugelassen, die einzig und allein dazu entwickelt wurden, den Ballwechsel zu zerstören, die Logik der Ballflugkurven und damit die Verständlichkeit des Spiels. (Wie viele Jugendliche und Kinder haben aufgegeben, wenn sie zum ersten Mal gegen destruktive Beläge antreten mussten und die Freude am Spiel verloren?) Man könnte sich wundern, dass wir nicht dem Trainerberuf und dem persönlichen Status der Trainer eine Bedeutung geben, wie sie in anderen Sportarten selbstverständlich ist und sie als Wegbereiter des Erfolges in gleicher Weise ehren wie die Athleten.
Man muss auch darüber reden. Aber ich möchte mich hier auf fünf Problemfelder beschränken, welche die Verbreitung und die Anerkennung unserer Sportart derzeit wohl in besonderem Masse hemmen. Wenn wir Tischtennis nach vorn bringen wollen, müssen wir vor allem die Aufschlagregel ändern.
Fünf Problemfelder
1. Das Aufschlag-Debakel
Unabhängig von den gutgemeinten Regelmodifikationen der letzten Jahre ist der Aufschlag immer noch ein entscheidendes Element unseres Sports. Ein zerstörerisches Element. (...) Unsere Athleten (und unsere Jugendlichen, die doch mit Tischtennis aus Freude am Ballwechsel und am Spiel beginnen!) trainieren am Ende Tage und Wochen ihres Sportler lebens an der Perfektionierung eines Schlags, der den Ballwechsel und das Spiel allzu häufig von vornherein zerstört und verhindert. Sie trainieren einen technisch hochkomplexen Schlag, dessen unglaubliche Raffinesse und dessen Wirkung die normalen Zuschauer aber gar nicht verstehen können. Und sie trainieren einen Schlag, der kaum einen athletischen und sportlichen Wert hat.
Es ist ein Schlag, der auch bei Weltranglistenspielern zu primitiv aussehenden Fehlern führt. Die Fülle der vermeintlich leichten Fehler nach dem Aufschlag und die Gründe für das schnelle Ende des Ballwechsels bei schlechter Rückgabe des Aufschlags verstehen nur wenige Insider, niemals aber ein normales Publikum in den Hallen oder an den optisch ohnehin alles verkleinernden Bildschirmen. (...) Er verhindert Ballwechsel. (...) Er verhindert, dass das breite Sportpublikum Tischtennis als eine der athletischsten, artistischsten und kreativsten Sportarten der Welt anerkennt.
In der interessanten Fachzeitschrift Tischtennis-Lehre lässt sich nachlesen, dass im Halbfinale der WM in Yokohama zwischen Ma Long und Wang Hao ein glattes Drittel aller Punkte nach nur zwei (!) Ballberührungen beendet war. Nur wenn wir die Regel so ändern, dass der Aufschlag seine spielzerstörende Bedeutung verliert und mehr der Eröffnung des Spiels und der Ballwechsel dient, werden wir Tischtennis nach vorn bringen.
2. Das Drama der minimalen Aktionszeiten
Das Thema Aufschlag muss erste Priorität haben. Denn damit zusammen hängt ein anderes schwerwiegendes Problem: das Problem der extrem kurzen eigentlichen Aktionsszenen.
Eine umfangreiche Spielzeiten-Analyse großer Wettkämpfe zwischen Weltklassespielern, die mir Michele Comparato zur Verfügung gestellt hat, zeigt, dass die Nettospielzeiten bei solchen Fights nur rund 20 Prozent betragen. Beim Team-WM-Finale 2006 China – Korea in Bremen zwischen Weltmeister Wang Liqin und Olympiasieger Ryu Seung Min waren die Kontrahenten 45 Minuten am Tisch. Die eigentliche Aktions-Zeit, also die Zeit, in der Ballwechsel stattfanden, betrug aber nur sieben Minuten und vierundvierzig Sekunden. Das sind 17,3 Prozent.
Stellen Sie sich vor, wo die Zuschauer beim Fußball wären, wenn in einem 90-minütigen Spiel der Ball nur 20 Prozent der Zeit, also nur 18 Minuten, im Spiel wäre! Bei uns sind solche Relationen nun seit Jahrzehnten die Regel, und wir Insider haben uns daran gewöhnt. Nur, das Publikum von heute macht es einfach nicht mit.
Weil wir in unserer immer noch sehr großen Tischtennis-Gemeinde allzu sehr im eigenen Saft schmoren, ignorieren wir diese Probleme und sehen nicht mehr über den Tellerrand. Versetzen Sie sich in die Lage eines TV-Redakteurs, der Tischtennis live übertragen soll, einem breiten Publikum aber im Rahmen einer halbstündigen Übertragung nur 6 Minuten Action-Time anbieten kann. Wobei dann, durch den Aufschlag bedingt, schon rund 50 Prozent der Punkte im ersten oder spätestens zweiten Ballwechsel entschieden werden, attraktive Ballwechsel also die Ausnahme sind.
3. Die tödliche Dauer unserer Spiele
Und nun vergleichen Sie mal die Kürze der Aktions-Zeiten mit der fast unzumutbaren Gesamtdauer unserer Spiele und Veranstaltungen. Vergleichen Sie den Zeitaufwand für Tischtennis mit dem populärer Sportarten wie etwa Fußball, Basketball oder Handball. Das Sportpublikum von heute, die Fernsehzuschauer und die Medien sind längst an fixe, planbare Zeitabläufe gewöhnt, in denen dichtgedrängt Aktionen ablaufen. Was glauben Sie, warum auch im Tennis oder in der Leichtathletik die Zuschauerzahlen und die Übertragungszeiten zurückgehen?
Ich gehöre zu den Freaks, die ein Bundesliga-Spiel von dreieinhalb Stunden mühelos durchstehen. Aber reden Sie mal mit einem normalen Sportfan, der sich mal Tischtennis ansehen will und dann entdeckt, dass ihn ein Spiel Borussia Düsseldorf gegen Ruhrstadt Herne den halben Sonntag kostet! Mir ist klar, dass für uns Tischtennis-Insider und ehemalige Spieler selbst die Dauer der Spiele eine Droge ist, die man nicht missen möchte. Aber wir müssen uns darüber klar sein, dass unsere Sichtweise ausstirbt und dass wir den Tischtennissport für eine neue Zeit nutzbar und faszinierend machen müssen. Haben nicht viele unter den Altmeistern unseres Sports auch schon beim Wechsel von 21 auf 11 Punkte das Ende der Welt kommen sehen? So wie wir die Zählweise ändern mussten, werden wir für unser Spiel sehr bald ein Zeitlimit einführen müssen.
4. Die Blockade der Emotionen
Sport heißt Wettkampf, und Wettkampf ohne den Ausdruck von Leidenschaft und Gefühlen ist nicht denkbar, ist geradezu unnatürlich. Unser Regelwerk aber zwingt Spieler und Betreuer zu einer Art von Selbstbeherrschung und Temperamentlosigkeit, die sich vielfach auch auf die Zuschauer überträgt. Ich meine, dass wir Kampf und Leidenschaft, Mitfiebern, Freude, Ärger und Enttäuschung eines Wettkampfs mit einem weit liberaleren Regelwerk tolerieren und ermutigen müssen. Die Schiedsrichter sollten nur all das unterbinden, was Unfair ness gegenüber dem Gegner bedeutet.
Doch wenn ein Spieler heute seinen Schläger fallen lässt, sieht er schon Gelb. Warum, zum Teufel, darf ein Spieler nicht mal ungestraft seinen Schläger in die Ecke feuern, laut mit sich selbst schimpfen oder sich laut mit seinem Betreuer fetzen? (Nierchen: dann bin ich nicht mehr der Einzige ) Ein lebendiger Sport ist immer auch Drama. Ich glaube, die meisten unserer Schiris sind echte Tischtennis-Fans, möchten nicht als ständige Oberaufseher wahrgenommen werden und hätten nichts gegen mehr Stimmung in den Hallen. Michael Geiger, prominenter Schiedsrichter-Boss auch auf ITTF-Ebene und heute Vize-Präsident Finanzen im DTTB, schrieb mir dazu: „Gerade was die Emotionen anbelangt, muss viel geändert werden. Der Sport lebt von Emotionen. (...)
5. Die irreführenden Fernsehbilder
Dies ist ein Kapitel, das ITTF, ETTU und DTTB nicht direkt beeinflussen können, wohl aber indirekt durch ständige Appelle an die TV-Macher. Wenn Sie Tischtennis sehen wollen und Ihren Platz in der Halle wählen können, setzen Sie sich dann in den Rücken der Spieler? Natürlich nicht. Aber genau da stehen in der Majorität der Übertragungen die Fernsehkameras, vor allem im Internet-TV. Und dann entsteht für den oft ahnungslosen Zuschauer am Bildschirm ein tödlicher Effekt.
Optisch zusammengequetscht sieht er zwei Spieler, die sich auf zwei Meter Entfernung gegenüberzustehen scheinen.
Er sieht nicht die Distanzen zwischen den Athleten.
Er kann Flugbahn und Tempo des Balles nur erahnen.
Er sieht nicht, ob der Ball kurz hinter dem Netz oder an der Grundlinie aufschlägt.
Er hält das alles nicht für ein athletisches Ereignis, sondern eher für ein hektisches und fehlerhaftes Ping-Pong-Spiel auf acht Quadratmetern Spielfläche.
Die Entwicklung der Fernsehsparten-Kanäle und die des Internet- Fernsehens gibt unserer Sportart neue und große Möglichkeiten der Präsentation. Derzeit vergeben wir sie. Sehen Sie mal bei Übertragungen auf Eurosport oder im Internet TV- Bilder, die den Wettkampf auch von der Seite zeigen oder von der erhöhten, seitlich-diagonalen Position. Klicken Sie mal auf www.youtube.com/watch?v=YdzGl3nyHlw, wo man einen Ballwechsel vom WM-Finale Schlager – Joo aus dem französischen Fernsehen sieht. Das etwa ist der Betrachtungswinkel, der die Bewegungsabläufe der Spieler, ihre Beinarbeit, ihre Platzierung der Bälle und die athletische Nutzung einer fast 100 qm großen Arena demonstriert und verständlich macht. Die Mehrzahl der Fernsehübertragungen bringt weder die Faszination noch die Athletik des modernen Tischtennisspiels rüber. Wir gewinnen dabei kaum neue Fans oder junge Leute, die „so ein tolles Spiel“ auch mal spielen wollen.
Man kann im Zusammenhang mit dem Thema Fernsehen viele Probleme anführen. Den Mangel an sachverständigen und zur Emotionalität fähigen Reportern etwa. Die geringe Zahl der Kameras. (Stellen Sie sich mal vor, Fußball, Skispringen oder Biathlon würde nur von jeweils zwei Kameras übertragen.) Oder das Fehlen von High-Tec und technisch-taktischen Erklärungen (Superzeitlupen unterschiedlicher Ball-Rotations-Frequenzen etwa, farbliche Markierungen von Ball-Flugkurven etc.). Aber all diese Dinge werden nicht kommen, solange nicht ein breiteres Publikum nachfragt und solange wir nicht der Öffentlichkeit grundsätzlich nachweisen können, dass unsere Sache faszinierend ist und faszinieren kann.
Solange unser Spiel im Wesentlichen von hinten und ohne seitliche oder erhöhte Diagonalkameras gezeigt wird, hilft uns das ohnehin selten vertretene Fernsehen jedenfalls nicht entscheidend weiter.
Was können wir tun?
1. Wir müssen die Aufschläge entschärfen und den Start in den Ballwechsel erleichtern.
Beispielsweise, indem wir die Bälle schwarz-weiß rastern und kennzeichnen. Das würde die Fehlerquote in der Aufschlag phase reduzieren, weil die Rotation des Balles leichter erkennbar ist.
Oder indem wir den Aufschlag abwechselnd diagonal in nur eine Tischhälfte platzieren lassen.
Oder indem ein diagonal gespielter Aufschlagball nach der Annahme im ersten Wechsel nur in das Feld zurückgespielt werden darf, aus dem er kam.
Wir müssen testen. Kreativität ist gefragt. Vorschläge sind willkommen.
2. Wir müssen darüber nachdenken, ob wir in Verbindung mit einer entschärften Aufschlagregel die Dauer eines Satzes zeitlich limitieren, die maximale Pause (z.B. 10 Sekunden) zwischen Punktgewinn/ Punktverlust und dem nächsten fälligen Aufschlag vorschreiben und damit gleichzeitig eine Verkürzung der Spieldauer, eine Verlängerung der Nettospielzeiten und eine unglaubliche Intensivierung des Wettkampfes erreichen.
Das würde natürlich den Einsatz von Uhren – wie in anderen Sportarten auch – bedingen. Wer beispielsweise nach fünf Minuten führt, hat den Satz gewonnen. (...)
Vielleicht können wir ja mit den Vereinen der DTTL, die aus vielerlei Gründen auf neue Impulse angewiesen ist, realitätsnahe Versuche starten, beispielsweise durch die Einführung eines einzelnen zeitlimitierten Spiels in jedem Mannschaftskampf. (...)
Dass ich hier und in allen bisher erwähnten Problembereichen über die medienrelevante Präsentation unseres Sports auf der absoluten Leistungsebene rede und über Experimente, deren Tauglichkeit sich für die Breite unseres Spielbetriebs erst erweisen müsste, sollte klar sein. Aber der DTTB, der größte europäische Verband, der in diesen Dingen die volle Unterstützung der ITTF bekommen würde, sollte vorangehen, bei anderen gutorganisierten Verbänden um Kooperation bitten und alle ITTF-Verbände mit solchen Überlegungen vertraut machen.
Revolutionen sind auch im Sport unbeliebt
Mir ist klar, dass Revolutionen auch im Sport unbeliebt sind. Die Spieler sind verständlicherweise überwiegend zufrieden mit den Regeln, nach denen sie trainiert und sich vorbereitet haben. Eine Mehrheit von ihnen war ganz sicher auch gegen das Verbot des Frischklebens. Aber es geht auch um ihre Zukunft. Und um die Motivation unserer vielen tausend Helfer und Mitarbeiter in Vereinen und Verbänden, deren gute Arbeit für einen tollen Sport nicht Stillstand verdient, sondern Wachstum und Erfolg.
Wir werden manches revolutionieren müssen, wenn wir nicht von neuen Sportarten, von neuen Sehgewohnheiten des Publikums und von den Zwängen einer neuen Medienwelt überrollt werden wollen. Tischtennis als Lifetime-Sport und -Spiel ist ein einzigartiger Wert. Wir dürfen ihn nicht durch Regeln gefährden, deren Unzulänglichkeit und Schwächen sich in der Praxis eindeutig erwiesen
haben.
Nierchen
(der Mann könnte Recht haben )
Quelle: Tischtennis-Pur
Hans Wilhelm Gäb
Darum brauchen wir neue Regeländerungen im Tischtennis
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Darum brauchen wir neue Regeländerungen im Tischtennis
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